Boundary Work

“Alternativmedizin” als unfreiwillig transdisziplinäre Praxis

v.1.1

Über das was wir tun und wie wir davon sprechen können.

Nomen est Omen

Dieser Artikel wurde für ein Glossar geschrieben und so beginnt er mit einer Befragung verschiedener Namen für das was wir tun.

Alternativmedizin ist ein verbreiteter Begriff. Er verweist zuallererst auf ein Original, auf einen Standard von dem dessen Alternative abweicht. Unter diesem Vorzeichen wird danach jede Beschreibung einer Praxis gelesen.

Komplementärmedizin tut das selbe, nur dass die Praxis auf die sie verweist nicht den Status einer Alternative erhält sondern den eines Komplements. Die bezeichnete Praxis ist also bevor sie beschrieben werden kann einzuordnen als etwas das als Ergänzung zu einem ihr äusserlichen Standard betrieben werden kann.

Bevor wir also eine so etikettierte Disziplin betreten können, bevor wir ihren Korpus an Wissen und Praktiken begutachten können, wird uns ein Rahmen gesteckt, eine zwingende Referenz.

Eine weitere Bezeichnung, die oft gewählt wird, ist Naturheilkunde. Da sie nicht auf einer Negation basiert, sondern durch einen positiven Bezug auf “Natur” wird sie von vielen Praktizierenden bevorzugt. In der Welt der Pharmakotherapie kann sie sich auf den Grad der Verarbeitung der Arzneien beziehen, sich in eine Opposition stellen zu einer “Chemo-Medizin”. Bei Manuellen Behandlungspraxen funktioniert der Bezug zum Beispiel über den Begriff der Selbstheilungskräfte des Körpers. Die Bezeichnung ist dennoch nicht ideal. Sie verschweigt, dass sie eine Kulturtechnik bezeichnet und bestärkt die Dichotomie Natur/Kultur überall dort wo diese automatisch aufgerufen wird, wenn einer der beiden Begriffe fällt. Selbst wenn sie es anders meint, wird sie so verstanden. Da sie in der Folge, weder von jenen ernst genommen wird welche klassisch naturwissenschaftlich in Paradigmen der Naturbeherrschung denken, noch von jenen, welche die Natur/Kultur Dichotomie ablehnen, hat eine Naturheilkunde epistemologisch einen schweren Stand. Sie bleibt eine unmündige Stimme in der grossen Familie der Medizin.

Adieu du schnöde Medizin?

In der Folge wird manchmal der umgekehrte Weg beschrieben um über das was wir tun sprechen schreiben und forschen zu können: Die Natur wird ebenso gestrichen wie die Medizin als Bezugsrahmen; stattdessen wird eine Kulturtechnik gefunden und untersucht. Dies öffnet nun die Türen zur Wissenschaftlichkeit und damit zur Wissensproduktion über Geistes- oder Sozialwissenschaften. Tatsächlich eröffnet das oft einen wertvollen Raum, der genutzt werden kann, für ein Forschen und Nachdenken über das was wir tun. Ein Schreiben und Sprechen wird möglich das sich nicht schon im Vornherein in Rechtfertigungs-Diskursen verläuft.

Ein solches Schreiben ist wertvoll, weil in ihm die traditionellen Medizinsysteme als sich fortschreibend, sich performierend, übersetzend und mit zeitgenössischen, lokalisierbaren Lebensrealitäten korrespondierend gelesen werden können.

Die Hinwendung zu dem was wir tun als Kulturtechnik jenseits des Diskurses der Medizin hat aber auch einen entscheidenden Nachteil: Sie entfernt sich von dem was wir tun, als etwas das in seiner Praxis verantwortungsvoll mit kranken Körpern auseinandersetzt die gerne gesund sein wollen.

Eine solche Praxis ist mit dem Begriff Medizin untrennbar verknüpft und wird ihr immer wieder eingeschrieben. Einer Kultutrtechnik die keine Medizin sein will, wird umgekehrt (ausserhalb eines sehr engen Kreises) diese Verantwortung aberkannt.

Ohne eine Praxis aber, die sich selber ernst nimmt, bleibt vom “Anderen Wissen” nur eine Repräsentation im Archiv, ein Stück koloniales Beutegut. Es ist die Performanz, das Lernen aus den Resultaten einer ernsthaften Anwendung sowie die Weitergabe, nicht als akademische Kuriosität, sondern als praktizierte Kulturtechnik, die das Wissen erhält und kein Versuch einer Konservierung kann diesen Aspekt ersetzen. Auch wenn unsere Klient*innen deswegen zu uns finden: Es ist nicht die Qualität des Originals, die Authentizität eines uralten Wissens, die unsere Angebote wertvoll macht. Es ist vielmehr die Qualität der Tradierung als einer Spur eines Wissens das sich in verschiedensten Geselschaftsformationen immer wieder aktualisiert und verantwortlich verhalten hat.

Es könnte trotzdem schöner sein.

Zumindest in Europa ist es also so: Wer unsere Praxen ausübt, kommt nicht umhin, sich im Schreiben, wie auch im Praxisalltag auf das Referenzsystem Medizin zu beziehen. In dem Feld in dem wir arbeiten, gibt es klar bestimmte Denkkollektive, die klar bestimmte Standards setzten und durchsetzten und ihre Legitimation aus einer Verantwortlichkeit gegenüber dem Gegenstand bezieht.

Wer also das tut was wir tun, tut gleichzeitig immer schon etwas anderes, übersetzt immerschon in eine andere Sprache, ein anderes Referenzsystem, performt in dessen Bann, oder aber sucht Anschlüsse an dieses um sich eine Verortung, einen Raum zu schaffen.

Nicht Notwendig, dass das was schlechtes ist. Es ist eine Art unfreiwillige Transdisziplinarität, die vom “real-world-problem” Gesundheit her angestiftet wird. Die Übersetzung und das performative fortschreiben des Wissens unter den Bedingungen die halt sind, kann affirmiert werden. Eine kritische Haltung gegenüber der Standardmedizin einzunehmen, heisst auch für viele von uns nicht, jene komplett abzulehnen. Ungelöst ist das Problem, wie in einem Feld das von solchen Machtgefällen durchzogen ist, Beziehung entwickelt und echte Dialoge geführt werden können.

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