WHAT WE SEE AND MAKE SEEN

Textauszug von Barthes “Das Reich der Zeichen”

“Die Strassen dieser Stadt haben keine Namen.

Wohl gibt es eine geschriebene Adresse, aber die hat

ausschliesslich postalische Bedeutung; sie bezieht sich auf

ein Kataster (nach Vierteln und Blocks ohne jede Geometrie),

das der Postbote kennt, nicht aber der Besucher:

Die groesste Stadt der Welt besitzt praktisch keine

Klassifizierung; die Raeume aus denen sie besteht, sind

namenlos. Diese Unschaerfe in der Bestimmung der Wohnung

erscheint solchen (wie uns) als unbequem, die sich an die

Festlegung gewoehnt haben, das Praktische sei stets das

Rationalste (ein Prinzip, wonach die beste staedtische

Toponymie die der nummerierten Strassen waere, wie es in den

Vereinigten Staaten oder in Kyoto, einer chinesischen Stadt,

gibt).

Tokyo erinnert uns indessen daran, dass das Rationale

lediglich ein System unter vielen ist. Damit Wirklichkeit

beherrschbar wird (in unserem Falle die der Adressen),

genuegt es, wenn ueberhaupt ein System existiert, und waere

dieses System auch scheinbar unlogisch, uebermaessig

kompliziert oder merkwuerdig disparat:

eine gelungene Improvisation kann nicht nur, wie man weiss,

aeusserst haltbar sein, sie kann auch die Beduerfnisse

vieler Millionen Einwohner befriedigen, die im uebrigen alle

Perfektion der technischen Zivilisation gewohnt sind.

Die Namenlosigkeit wird durch eine Reihe von Hilfsmitteln

(so jedenfalls erscheinen sie uns) ausgeglichen, deren

Kombination ein System ergibt. Man kann die Adresse durch

eine (gezeichnete oder gedruckte) Orientierungsskizze

darstellen, eine Art geographischen Verzeichnisses, das die

Wohnung ausgehend von einem bekannten Anhaltspunkt, einem

Bahnhof etwa, lokalisiert (die Einwohner brillieren in der

Verfertigung solcher improvisierten Zeichnungen, die, auf

einem Stueckchen Papier skizziert, eine Strasse, ein

Gebaeude, einen Adressentausch zu einer koestlichen

Kommunikation machen, in der ein Koerperleben, eine Kunst

der graphischen Geste wiedererstehen:

Es ist immer ein Vergnuegen, jemand beim Schreiben

zuzusehen, erst recht aber beim Zeichnen: Von all den

Gelegenheiten, da jemand mir auf diese Weise eine Adresse

mitteilte, bewahre ich die Geste meines Gespraechspartners

im Gedaechtnis, mit der dieser den Bleistift umdrehte und

mit dem am oberen Ende angebrachten Radiergummi vorsichtig

die uebertriebene Biegung einer Strasse oder das

Verbindungsstueck einer Bruecke ausradierte; obwohl der

Radiergummi der graphischen Tradition Japans widerspricht,

str ahlte diese Geste doch etwas Friedliches, Liebkosendes

und Sicheres aus, ganz so, als folgte selbst diese

nebensaechliche Handlung der Regel des Schauspielers Zeami,

wonach der Koerper mit groesserer Zurueckhaltung arbeitet

als der Geist”.

In all dem ging es weit mehr um den Akt der Mitteilung als

um die Adresse selbst, und in meiner Faszination haette ich

gewuenscht, es moechte doch Stunden dauern, mir diese

Adresse zu geben. Man kann auch, sofern man den Ort, an dem

man will, bereits kennt, den Taxifahrer selbst durch die

Strassen lotsen. Und schliesslich kann man den Fahrer auch

bitten, sich selbst von dem fernen Besucher, zu dem man

gelangen will, ueber eines der grossen roten Telephone

dirigieren zu lassen, die an fast allen Strassenaus lagen

installiert sind.

All dies macht die visuelle Erfahrung zu einem

entscheidenden Element der Orientierung: eine banale

Feststellung, wo es sich um den Dschungel oder den Busch

handelt; sie wirkt jedoch weit weniger banal, wenn es um

eine sehr grosse moderne Stadt geht, deren Kenntnis

gewoehnlich durch Stadtplaene, Fuehrer, Telefonbuecher, mit

einem Wort: durch die gedruckte Kultur und nicht durch eine

gestische Praxis sichergestellt wird.

Hier dagegen stuetzt keine Abstraktion die Lokalisierung der

Wohnung; jenseits des Katasters ist sie nicht als pure

Kontingenz: eher faktischer denn rechtlicher Natur,

bestaetigt sie nicht laenger die Verbindung einer Identitaet

mit einem Besitz.

Diese Stadt kann man nur durch eine Taetigkeit

ethnographischen Typs kennenlernen: man muss sich in ihr

nicht durch das Buch, durch die Adresse orientieren, sondern

durch Gehen und Sehen, durch Gewoehnung und Erfahrung. Jede

Entdeckung ist hier intensiv und fragil. Wiederfinden laesst

sie sich allein durch die Erinnerung an die Spur, die sie in

uns hinterlassen hat:

Einen Ort zum erstenmal besuchen heisst dann: beginnen, ihn

zu schreiben: Da die Adresse ungeschrieben ist, muss sie

sich eine eigene Schrift schaffen.”

Textauszug von Roland Barthes` “Das Reich der Zeichen”,

edition suhrkamp, Frankfurt a.M. 1981, Kapitel “Ohne

Adressen”, S. 51-55

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